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Kinder und Corona
Weil diese Frage von Experten mangels Erfahrungswerten und Studien bisher nicht beantwortet werden konnte, wurden Kinder als potentielle Virusträger unter Generalverdacht gestellt und für einige Wochen beziehungsweise Monate sämtliche Schulen und Kitas des Landes geschlossen.
Aber jetzt kommen die ersten Erhebungen zu Ergebnissen, so wie die von der Kinder- und Jugendklinik Gelsenkirchen. Die KJK ist eine von 151 deutschen Kinderkliniken, die an einer Erhebung zu den SARS-CoV-2 Infektionen bei Kindern teilnimmt. Durchgeführt wird die Studie von der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI).
„Zu Beginn der Corona-Pandemie bekamen wir von den Kinderärzten aus Wuhan Informationen und Zahlen. Jetzt gibt es Zahlenmaterial aus 151 deutschen Kinderkliniken: In 66 Kliniken wurden 128 mit Covid-19 infizierte Kinder behandelt. Es zeigte sich, dass die Infektion bei ihnen mild verlief und die Rate der Kinder, die stationär oder gar intensivmedizinisch behandelt werden, gering war“, erklärt Dr. Gerrit Lautner, Ärztlicher Direktor in der KJK. Von sämtlichen in der KJK Gelsenkirchen getesteten Verdachtsfällen hatte kein Kind ein positives Ergebnis.
Laut Report der deutschen Studie aus einer Untersuchung der CDC (Centers for Disease Control and Prevention, USA) haben sich 90 Prozent der erkrankten Kinder durch Haushaltskontakte angesteckt, die meisten bei ihren Eltern. „Anders als bei der Grippe haben nicht die Kinder das Virus weitergegeben. Eine Information, die bei der Entscheidung über die Öffnung der Schulen und Kindertagesstätten wichtig ist“, sagt Dr. Lautner.
Zwar haben sich in Deutschland im ersten Ergebniszeitraum der Studie zwischen dem 18. März und 4. Mai 2020 Kinder untereinander kaum bis gar nicht getroffen, die Studie der DGPI bezieht aber auch ausländische Studien zu Kindern und Jugendlichen mit ein, die außerhalb eines Lockdowns durchgeführt wurden. So belegt eine Studie aus Island, dass Kindertagesstätten und Schulen nicht der Ausgangspunkt von Infektionsketten waren. Und in einer französischen Studie steckten Jugendliche während eines COVID-19-Ausbruchs nur 10,9 Prozent ihrer Haushaltsmitglieder an.
Auch internationale Studien wie die der Weltgesundheitsorganisation WHO kommen zu dem Ergebnis, dass Kinder und Jugendliche seltener und meist nur leicht an einer Infektion mit SARS-CoV 2 erkranken, als Erwachsene. In Deutschland entfallen laut Lagebericht des Robert Koch Instituts bislang etwa 3 Prozent aller registrierten Infektionen auf Kinder und Jugendliche bis 14 Jahre. Ihr Anteil an der Bevölkerung beträgt aber 13 Prozent. Die Ursachen der Diskrepanz können bislang nur vermutet werden: Möglicherweise werden Kinder seltener getestet oder sie infizieren sich tatsächlich weniger häufig. Denn vergleichbar geringe Infektionsraten von Kindern sind aus anderen Coronavirus-Epidemien wie SARS oder MERS bekannt. Erste Fallstudien belegen zudem, dass eher Erwachsene Kinder anstecken, als umgekehrt. Insgesamt bleibt weiter unklar, wie wichtig Kinder für die Verbreitung des Virus in der Bevölkerung sind, die bisherigen Daten legen aber nahe, dass sie für das Voranschreiten der Pandemie eine untergeordnete Rolle spielen.
Gravierende gesundheits- und sozialpolitische Entscheidungen wurden basierend auf Vergleichen mit zum Beispiel der Influenza getroffen, bei der Kinder eine bedeutende Rolle bei der Infektionen bei Erwachsenen darstellen. Bisher kann dies für die Übertragung von SARS-CoV-2 nicht bestätigt oder nahelegt werden.
Die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin e.V. rät daher in ihrer Stellungnahme von weiteren Einschränkungen der Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie ab: „Kinder und Jugendliche wurden in ihren Lebenswelten massiv eingeschränkt, nicht zum eigenen sondern zum Schutz Anderer.“ Und sie kritisieren: „In den politischen Beratergremien sind keine Kinder- und Jugendärzte und keine Pädagogen vertreten. Ein großer Teil der Bevölkerung wird somit überhaupt nicht berücksichtigt.“
In der Stellungnahme fordern die Kinderärzte: „Die jetzt anstehenden Regelungen zur weiteren Normalisierung müssen daher auch mit Blick auf die Bedürfnisse und Rechte der Kinder und Jugendlichen beschlossen werden. Mutige Entscheidungen sind gefordert, die sich nicht ausschließlich an einer hygienischen und epidemiologischen Risikominimierung für Erwachsene orientieren, sondern die stark genug sind, um langfristig Schaden von Kindern und Jugendlichen abzuwenden. Die bisherigen politischen Entscheidungen in der Krise zeigen einmal mehr, warum Kinderrechte in das Grundgesetz gehören.“
UPDATE vom 8.6.: Das Bildungsministerium NRW hat am 5. Juni dazu erklärt: "Es besteht Einigkeit, dass der Kita- und Schulbetrieb in Bezug auf Kontaktbeschränkungen und Abstandsregeln gesondert zu betrachten ist. Hier tritt die Notwendigkeit der Abstandswahrung zurück, sofern konstante (Lern-)gruppen gebildet werden können und Infektionsprävention durch Vermeidung von Durchmischung geleistet werden kann. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen und Sachlage hält die Landesregierung – auch in Kenntnis des damit verbundenen organisatorischen Aufwands - die Wiederaufnahme eines verantwortungsvollen Normalbetriebs an den Grundschulen bzw. an den Schulen der Primarstufe ab dem 15. Juni 2020 für geboten." Die Einzelheiten sind hier nachzulesen.
Und obwohl das Landesministerium damit auch der hartnäckigen Forderung des Landeselternbeirats der Kindertageseinrichtungen NRW (LEB) nachkommt, sehen die Elternvertreterïnnen den Öffnungen mit gemischten Gefühlen entgegen. Denn anstatt den schon vor der Corona-Pandemie oft geforderten tatsächlichen Betreuungsbedarf von Familien zu ermitteln, bildet sich aktuell ein Flickenteppich aus den unterschiedlichsten Herangehensweisen in der Umsetzung. So können in den Einrichtungen je nach Kommune mal die Wochentage gewählt werden, an denen die Betreuungsstunden abgerufen werden, während woanders auf festgelegten Stunden pro Tag beharrt wird. Teilweise werden erweiterte Betreuungsmöglichkeiten in den Sommerferien angeboten, während in anderen Kreisen und Städten an den Schließzeiten festgehalten wird. Dadurch sehen sich zum Beispiel Familien, die bereits Zugang zur erweiterten Notbetreuung hatten, nun teilweise mit gekürzten Betreuungsumfängen konfrontiert. Und Familien, die mit dem eingeschränkten Regelbetrieb nun erstmalig wieder Zugang zur Kindertagesbetreuung erhalten, stehen vielerorts eingeschränkten oder starr verblockten Öffnungszeiten gegenüber. Die Ermittlung des familiären Betreuungsbedarfes mittels einer Bedarfserhebung sieht der LEB als unausweichlich an und fordert daher in seiner Pressemitteilung vom 6. Juni 2020 weiterhin eine "adäquate Elternbeteiligung auf Einrichtungs-, Jugendamts- und Landesebene."