Hörschädigungen sind die häufigste angeborene Sinnesbehinderung bei Kindern. Von 1.000 Neugeborenen kommen zwei bis drei gehörlos oder mit einer hochgradigen Hörschädigung zur Welt. Der heutige Stand der Technik ermöglicht es, dass diese Kinder bei einer optimalen Versorgung mit Hörsystemen und intensiver Förderung nahezu altersgerecht Sprache erwerben. Da Hörschädigungen jedoch unsichtbare Behinderungen sind, die in der Regel erst im zweiten oder dritten Lebensjahr entdeckt werden, gehen nicht nur wertvolle Monate für die Sprachentwicklung verloren, sondern es kommt auch im psychosozialen Bereich zu folgenschweren Verzögerungen. Der Gesetzgeber hat auf diesen Umstand reagiert und ein Neugeborenen-Hörscreening zur verpflichtenden Vorsorgeuntersuchung erklärt, die seit 2010 in allen Bundesländern durchgeführt wird. Seitdem haben sich die Startbedingungen für betroffene Kinder erheblich verbessert und Entwicklungsstörungen, die mit einer spät erkannten Hörschädigung einhergehen, wurden minimiert.
Beim Hörscreening handelt es sich um einen Test, der völlig schmerzfrei ist und keinerlei Nebenwirkungen verursacht. Er kann sogar durchgeführt werden, während das Baby schläft. Über eine Sonde wird dem Ohr ein Ton von lediglich 35 Dezibel angeboten, was etwa der Lautstärke in einem Wohnraum ohne zusätzliche Geräuschquelle entspricht. Ein gesundes Ohr registriert diesen Ton. Seine Haarzellen werden angeregt und erzeugen als Antwort selbst ein Tonsignal, das sich nun im Gehörgang messen lässt. Sind diese sogenannten otoakustischen Emissionen (OAE) vorhanden, spricht man von einem negativen Testergebnis und eine angeborene Hörschädigung, die den Spracherwerb verhindern würde, kann ausgeschlossen werden. Ein weiteres, ebenso sanftes Messverfahren ist die automatisierte Hirnstammaudiometrie (AABR), bei der ebenfalls ein Sondenton angeboten und mit Hilfe von kleinen Elektroden gemessen wird, ob das Gehirn auf den Ton reagiert.
Für beide Messverfahren gilt: Ist das Ergebnis auffällig, das heißt, erfolgt keine Reaktion, deutet das nicht zwingend auf eine Hörschädigung hin. Manchmal befindet sich im Gehörgang des Säuglings noch Fruchtwasser, das die Weiterleitung des Schalls behindert, oder andere ungünstige Messbedingungen sind die Ursache. Die Untersuchung wird wenige Tage später noch einmal wiederholt. Ergibt allerdings auch das zweite Screening einen auffälligen Befund, folgen jetzt genauere Tests mit aufwändigerer Diagnostik.
Hören ist für jedes Kind ein Lernprozess
Wenn Kinder ihre ersten Wörter sprechen, haben sie einen langen Prozess des Hören-Lernens hinter sich. Das Innenohr ist bereits im dritten Schwangerschaftsmonat voll ausgebildet. Babys reagieren auch vor der Geburt schon nachweislich auf Geräusche. Sie können die akustischen Reize jedoch noch keiner Bedeutung zuordnen. Selbst in den ersten Lebensmonaten sind sie nicht in der Lage, Geräusche aus ihrem Umfeld zu verarbeiten. Akustische Reize, vor allem die Stimmen der Eltern, müssen wieder und wieder angeboten werden, bevor ein Baby sie sicher zuordnen kann. Erst im dritten Lebensmonat können Kinder beispielsweise zwischen den Stimmen der Eltern und dem Klingeln eines Glöckchens differenzieren. Die dafür erforderlichen Hörbahnen entstehen ganz langsam, indem Nervenverbindungen zwischen Innenohr und Gehirn geknüpft werden. Insgesamt dauert es anderthalb Jahre, bis alle Nervenverbindungen stehen und das Kind gelernt hat zu hören. Ein anstrengender Prozess, der ihm übrigens leichter fällt, wenn es nicht mit Reizen durch Fernseher, Radio oder CD-Player überfordert wird, sondern die Zuordnung der einzelnen Geräuschquellen Schritt für Schritt erfolgen kann.
In die Phase der Nervenanbindung fällt auch das Erlernen der ersten Wörter. Viele Male müssen Eltern Dinge wiederholen, bevor sie für das Kind einen Sinn ergeben und es beginnt, sie selbst auszusprechen. Kindern mit einer nicht erkannten Hörschädigung fehlt nicht nur jeder Hinweis darauf, wie ein gesprochenes Wort klingt, sie haben auch den gesamten Prozess der Hörbahnreifung versäumt. In dieser Phase werden nicht nur die Weichen für eine erfolgreiche Hör-Sprachentwicklung gestellt. Auch die Qualität der späteren Lautsprache sowie Grundlagen für das Lesen und Schreiben werden bereits maßgeblich geprägt.
Den kognitiven Entwicklungsstörungen bei Kindern mit einer spät entdeckten Hörschädigung schließen sich Defizite im psychosozialen Bereich an. Fehlende Sprache bedeutet, sich nicht mit anderen Kindern austauschen zu können und vom sozialen Umfeld ausgeschlossen zu sein. Nicht umsonst spricht man bei spät diagnostizierter hochgradiger Schwerhörigkeit von Folgebehinderungen, die umso stärker ausfallen, je größer der Rückstand auf die natürliche Hör-Sprachentwicklung ist. Grund genug also, Kinder schon in den ersten Lebenstagen auf ihre Hörfähigkeit zu testen, damit im Fall einer Beeinträchtigung wertvolle Entwicklungszeit genutzt werden kann.
Und wie geht es nach einem auffälligen Befund weiter?
Hat sich der Verdacht auf eine Hörschädigung bei der zweiten Messung erhärtet, so folgt als weitere Untersuchung eine Hirnstammaudiometrie. Sie liefert zuverlässige Ergebnisse, unter anderem auch über den Grad einer Hörschädigung. Babys können schon in den ersten Lebensmonaten mit Hörgeräten versorgt werden. Wichtig ist, dass Eltern sich dafür an einen Hörakustiker wenden, der auf die Versorgung von Kleinkindern spezialisiert ist. Gleichzeitig beginnt das Hörtraining, zu dem sie im Rahmen der hörgerichteten Frühförderung angeleitet werden. Genau wie Kinder mit natürlichem Hörvermögen können auch gleichaltrige Hörgeschädigte lernen, Sprache und Geräusche zuzuordnen. Das Verfahren ist nur aufwändiger und erfordert intensivere Zuwendung, denn selbst die ausgereifte Technik von heute ist nicht in der Lage, das menschliche Gehör komplett zu ersetzen. Normal Hörende sind beispielsweise auch bei hoher Geräuschkulisse in der Lage, wichtige Informationen wie etwa Sprache aus den unwichtigen heraus zu filtrieren. Diese Leistung von Ohr und Gehirn können Hörsysteme oder auch das Cochlear Implantat, nicht ersetzen. Mehr noch als hörende Kinder braucht ein hörgeschädigtes Kind deshalb ein ruhiges Umfeld, damit es Sprache gut wahrnehmen und selbst entwickeln kann.
Das Neugeborenen-Screening wird in Geburtskliniken routinemäßig in den ersten Lebenstagen durchgeführt. Kinder, die ambulant oder zu Hause geboren werden, sollten in den ersten Wochen von einem pädaudiologisch qualifizierten HNO-Arzt getestet werden.
Ausführliche Informationen dazu stellt die Deutsche Kinderhilfe e.V. auf den Websites www.fruehkindliches-hoeren.de und www.neugeborenen-hoerscreening.de zur Verfügung.