Das Heu piekt in meinen Hintern, meine Wollhose kratzt und Eduard liegt einfach nur vor mir. Ich glaube, er ist eingeschlafen.
Mir wird es ganz schwer im Magen, obwohl gerade alles so spannend ist und ich mein erstes großes Abenteuer erlebe. Außer damals vielleicht, als ich im Wald verloren gegangen bin.
Aber eigentlich war das nur der kleine Park in der Stadt, aus dem ich nach fünf Minuten laufen schon wieder draußen war, und dann hat auch noch Frank auf der anderen Seite auf mich gewartet und ich war gar nicht so einsam und verloren wie ich gedacht hatte.
Aber diesmal wartet keiner vor der Scheune und ich muss das irgendwie alleine geregelt kriegen.
Ich würde gerne wissen, was Frank jetzt macht. Nicht, dass ich mir Sorgen mache. Im Großen und Ganzen kommt er ganz gut ohne mich klar.
Vielleicht freut er sich sogar ein kleines bisschen. Immer wieder sagen irgendwelche Nachbarn und Freunde zu ihm, dass es ja wirklich schwer ist, so allein erziehend und in der heutigen Zeit und so.
Das versteh ich nicht ganz, weil er doch gar nicht alleine ist, ich bin ja auch noch da. Aber wenn meine Mama auch noch da wäre und nicht immer noch beim Zigaretten holen (in Gedanken ziehe ich mir mein eines Augenlied nach unten, das gehört mittlerweile irgendwie zusammen), wäre es wahrscheinlich einfacher. Dann könnten sie abwechselnd für mich da sein oder kochen oder schimpfen. Dann könnte Frank gewittrig von der Arbeitssuche kommen und nichts sagen oder morgens lange im Bett liegen, wenn er die ganze Nacht Drachen töten musste, und keiner bräuchte ein schlechtes Gewissen zu haben, und ich würde mit meiner Mutter am Frühstückstisch sitzen und sie würde mich fragen, wie mein Tag so aussieht.
Frank redet nur ganz selten über sie. Sie kannten sich erst ein Jahr, als ich unterwegs war. „Unterwegs war“ sagt er immer, als ob ich von ganz weit weg angereist bin. Und dann sagt er, das war ein gutes Jahr, und ich frage mich, ob es gut war, weil ich noch nicht da war. Aber Frank frage ich das nicht.
Von daher ist es jetzt vielleicht auch gut, wenn er so lange schlafen kann, wie er will, und nur für einen einkaufen muss und ich nicht immer die ganze Wohnung durcheinander bringe und im Weg stehe.
Obwohl also doch eigentlich alles in Butter ist, rollen ein paar Tränen über meine Wange nach unten. Ich glaube, ich habe das erste Mal ein bisschen Heimweh.
Aber irgendjemand muss Emma doch helfen. Wo kämen wir denn da hin, wenn Helden ständig Heimweh hätten. Kolumbus hätte das ganze Meer voll geheult und hätte nie den richtigen Weg nach Amerika gefunden, Siegfried hätte mit Tränen in den Augen immer neben den Drachen gepiekst und Superman wäre vermutlich gegen die nächste Wand geflogen und der war wirklich weit weg von zu Hause, fast so weit wie Alf, das war zwar kein richtiger Held, aber geheult hat der auch nie.
Und Jack, Dschäck ohne Bohne, oder vielleicht besser „Dschäck ohne Bohne und ohne Furcht“, der wird losziehen und die arme hilflose Emma befreien, so ist das, jawohl, da wird nicht geflennt.
Ich springe mit erhobener Faust auf und renne zum Fenster, um dem Dunkel da draußen vor der Nase herum zu fuchteln, damit es merkt, dass ich keine Angst vor ihm habe, ich nicht!!
Von draußen starrt ein Gesicht zu mir herein und ich schreie auf. Mein Herz rast, das hat wohl noch nicht mit bekommen, dass ich jetzt keine Angst mehr habe. Einen Moment schauen wir uns einfach nur in die Augen und ich mache mir fast in die Hose, bis ich Laura erkenne, die ihre Nase an die Scheibe presst und mir Zeichen gibt, dass ich sie herein lassen soll.
Sie schaut verlegen zu Boden und scharrt mit den Fußspitzen kleine Halbkreise in den Staub. Dann sieht sie mir ganz fest in die Augen. Ihr Gesicht ist komisch, ein bisschen Traurigkeit ist darin und auch ein bisschen Angst.
„Ich mag dich, weißt du?“
Mein Gesicht wird ganz heiß und ich befürchte, dass ich gerade ziemlich rot werde.
„Ähhhm. Ich dich auch?“ Verdammt, was antwortet man denn auf so was?
„Hör bitte auf nach Emma zu suchen!“ Stößt sie plötzlich hervor. Sie greift nach meinem Arm und schüttelt ihn ein bisschen. „Du hast keine Ahnung, auf was du dich da einlässt! Nimm deinen Teddybären und geh zurück, solange du es noch kannst!“
Ich schüttel sie ab. „Das werde ich bestimmt nicht tun. Ich werde sie finden und ich werde sie retten! Wo auch immer sie ist!“
Sie lässt ihre Hände sinken und ihr Gesicht auch und plötzlich tut sie mir richtig ein bisschen leid.
Aus ihrer Hosentasche zieht sie ein paar zerknitterte Seiten, die mit einer sauberen rundlichen Mädchenschrift beschrieben sind. Statt I-Punkte sitzen kleine Herzchen auf den Buchstaben.
„Das habe ich mir gedacht. Ok. Sie war hier. Und sie hat das hier dagelassen. Es sind einige Seiten aus ihrem Tagebuch. Sie werden dir helfen, sie zu finden.“
Ich greife nach den Blättern. Die erste Seite fängt an mit: „Als ich Felix das erste Mal traf, saß ich weinend auf einer Parkbank.“ Ich muss mich setzen. Während ich weiter lese, steht Laura neben mir und schaut mir über die Schulter.
Emma hat Felix also auch getroffen und auch sie hat er in der U-Bahn mitgenommen. Sie hatte keine Frau im dunkeln Mantel und auch keinen Eduard, der sie zurückgebracht hat. Aber weil sie auch keine Eltern mehr hatte und kein wirkliches zu Hause, zu dem sie zurück konnte, ist sie hier geblieben. Sie schreibt, wie sie immer eine Zeitlang in einem Traum gelebt hat, bis Felix sie wieder abholen kam, um sie in einen neuen Traum zu bringen. Manche Träume waren schön, andere weniger und irgendwann hatte sie die Nase voll und ist abgehauen. Seitdem ist sie auf der Flucht.
An dieser Stelle brechen die Aufzeichnungen ab.
„Wo sind die anderen Seiten?“
„Sie wollte nicht, dass jemand sie liest, den sie nichts angehen. Deshalb hat sie ihr Tagebuch über mehrere Träume verteilt. Ich glaube, sie hätte gewollt, dass ich sie dir gebe. Die Seiten sind noch miteinander verbunden. Wenn du ihnen folgst, kannst du sie vielleicht finden.“
„Und wie soll ich das machen?“
„Komm mit.“ Ich stopfe Eduard, der weiter tut, als hätte er nie in seinem Leben geredet, wieder unter mein Hemd und folge ihr.
Laura klettert die steile Treppe nach oben auf den Heuboden. „Emma war oft hier, wenn sie alleine sein wollte. Manchmal hat sie mich mitgenommen und wir haben uns Geschichten erzählt.“
Sie greift meine Hand mit den Seiten und hält sie ein wenig vor sich, während wir langsam über die knarrenden Holzdielen laufen. Plötzlich bleibt sie stehen.
„Hier ist es. Hörst du es?“
Tatsächlich höre ich etwas. Aus den Seiten kommt leise aber deutlich Emmas Stimme: „Als ich Felix das erste Mal traf...“
Laura beugt sich hinunter und fegt mit den Händen das Heu zur Seite. Darunter kommt eine Luke zum Vorschein. Als sie sie öffnet, schauen wir nicht wie erwartet in den Raum unter uns, sondern in endlose Dunkelheit.
„Jeder Traum hat ein Portal. Eine Art Notausgang, wenn du so willst. Dadurch kannst du in einen anderen Traum gelangen. Wenn du hier hinein springst und dabei die Seiten fest in der Hand behälst, kommst du automatisch in dem Traum raus, wo die nächsten Seiten versteckt sind.“
Sie hält immer noch meine Hand mit den flüsternden Seiten fest.
„Woher weißt du das alles?“
Jetzt lässt sie langsam los, und nun ist sie dran mit rot werden. Sie schaut mich lange an, so, als ob sie sich fragt, ob sie mir wirklich vertrauen kann. Schließlich sagt sie: „Weil das hier mein Traum ist.“
Ich nicke. Dann knie ich mich vorsichtig vor das dunkle Loch, ein kalter Zug streift mein Gesicht.
„Und wie kann ich dich wieder finden?“
Laura nimmt die feine goldene Kette ab, die sie um den Hals trägt und lässt sie in meine geöffnete Handfläche rieseln.
„Halte sie in der Hand, wenn du durch ein Portal trittst, und du kommst wieder hier her.“
Das ist alles dermaßen seltsam, dass ich langsam aufhöre mich darüber zu wundern.
Laura hockt neben mir und wird schon wieder ganz rot. Plötzlich umarmt sie mich. Sie drückt so sehr zu, dass ich kaum noch Luft bekomme.
„Grüß Emma von mir.“ Endlich lässt sie mich wieder los, aber ich meine immer noch ihre dünnen Arme um mich zu spüren.
Ich hole einmal tief Luft, gebe ihr einen ganz schnellen Kuss auf die Wange und dann springe ich. Mitten in das Schwarz hinein. Der Wind rauscht in meinen Ohren.
Es fühlt sich an wie fliegen.