Felix läuft vor mir und schaut sich nicht einmal um, ob ich ihm folge.
„Wohin gehen wir denn?“ - Schweigen.
„Wann kommen wir denn zurück? Ich muss wieder zu Hause sein, wenn die Straßenlaternen angehen, sonst bekomme ich Ärger mit Frank.“ Wieder keine Reaktion.
Wenn überhaupt, geht er jetzt noch ein bisschen schneller und ich muss richtig rennen, um ihn nicht zu verlieren. Das finde ich nicht besonders rücksichtsvoll von ihm.
„Gibt es da, wo wir hingehen, etwas zu essen?“ Langsam ärger ich mich, dass ich Emma mein ganzes Brot gegeben habe, mein Magen fängt nämlich böse an zu knurren.
„Du fragst zu viel“ sagt Felix und das sitzt erst mal. Das höre ich in der Schule auch immer von der Lehrerin. Obwohl, bei ihr finde ich das ziemlich ungerecht, sie fragt nämlich viel mehr.
„Das heißt wissbegierig und ist was Gutes“ erkläre ich ihm, keine Ahnung, was das genau heißt, aber das sagt Frank den Lehrern auch immer, wenn die sich beschweren.
Frank kann ich wirklich alles fragen. Ich kriege nur nicht immer eine Antwort. Irgendwie scheinen ihm die vielen Briefe, die nachmittags immer kommen, auf die Ohren zu schlagen. Umso mehr von diesen Absagen im Postkasten sind, umso weniger kann er mich hören. Manchmal hört er mich dann den ganzen Tag nicht mehr. Wenn ich sage, ich habe Hunger, ist das doof, aber ich kann ja jetzt auch schon alleine Spiegelei machen. Wenn ich sage, ich gucke jetzt noch die nächsten drei Folgen von meiner Lieblingsserie, ist das manchmal auch ganz prima. Trotzdem wüsste ich gerne, wo der Knopf ist, um ihn wieder anzustellen, denn irgendwann wird es auch langweilig. Manchmal kann man nicht mal alleine so einsam sein, wie neben einer Person, die man lieb hat und die nicht mit einem redet.
Übrigens finde ich es erstaunlich, wie entspannt ich so mit mir rede, während ich einem fast fremden Mann hinterherlaufe. Mittlerweile habe ich nämlich überhaupt keine Ahnung mehr, wo ich bin.
Jetzt geht er auch noch in einen dieser unheimlichen U-Bahn-Eingänge. U-Bahn-Eingänge riechen alle gleich. Kalt und ein bisschen nach Pipi und Keller. Ich will ihm gerade sagen, dass ich gar keine Fahrkarte habe, da hebt er einmal die Hand, und die Schranke, die sonst nur hoch geht, wenn man seine Karte einsteckt, öffnet sich von ganz alleine.
In der Bahn sind schrecklich viele Leute und wir müssen im Gang herum stehen. Um mich herum sehe ich nur Jacken und Taschen, die mir ins Gesicht gedrückt werden. Es schaukelt und rattert und die Frau in den Lautsprechern zählt eine Haltestelle nach der anderen auf. Mit jeder Station wird es etwas leerer und schließlich können wir uns sogar hinsetzen. Als die Frauenstimme freundlich „Endstation, bitte alles aussteigen“ sagt, will ich aufstehen, aber Felix hält mich an meiner Kapuze fest. „Noch nicht.“
Auch die letzten Fahrgäste verlassen den Wagen und wir beide sitzen ganz alleine da. So langsam bekomme ich doch wieder Bammel. Ich hätte einfach auf mich hören sollen, vorhin im Park. Ohne die anderen Menschen und die Stimme im Lautsprecher, scheppert die Bahn noch viel lauter und in den Kurven quietschen die Metall-Räder dermaßen, dass ich Angst habe, sie könnten jeden Moment aus den Schienen springen.
Wohin so eine U-Bahn wohl fährt, wenn sie schlafen geht?
Als wäre nicht alles schon gruselig genug, geht jetzt auch noch das Licht in den Wagen aus und wir rattern in vollkommener Dunkelheit durch die Tunnel. Nur ein kleines rotes Lämpchen taucht alle paar Sekunden vor den Fenstern auf.
Ich bin ja sonst kein Schisser, aber das geht mir dann doch ein bisschen zu weit. Ohne darüber nachzudenken, klammer ich mich an Felix‘ Arm. Erst schüttelt er mich ab, als sei ich ein Insekt oder so, aber dann legt er mir eine schwere Hand auf mein Knie und flüstert „Vertrau mir“ in mein Ohr.
Es fühlt sich an, als ob wir noch Stunden so weiter fahren. Wahrscheinlich sind es nur ein paar Minuten, aber im Stockdunkeln wird Zeit zäh wie Zuckerrübensirup. Vielleicht muss sie langsamer gehen, weil sie nicht sieht, wo sie hinläuft.
Endlich hält die Bahn und die Türen öffnen sich. Mittlerweile bin ich mir nicht mehr ganz sicher, ob ich überhaupt aussteigen will, aber Felix nimmt einfach meine Hand und zieht mich nach draußen.
Wenigstens kann ich wieder etwas sehen. Zu meiner Überraschung stehen wir aber nicht in einer grauen U-Bahnstation sondern in einer kleinen bunten Halle. Die Wände sind mit großen Bildern bemalt und es riecht nach Eiscreme. Erst jetzt bemerke ich, dass wir auch nicht mehr alleine sind. Ein Einradfahrer fährt an uns vorbei und hebt grüßend die Hand an die Kappe, als er uns sieht. Vor kleinen Kassenhäuschen, die halb in die Wände hinein gebaut sind, stehen einige Menschen Schlange und warten, dass sie an der Reihe sind. Am anderen Ende der Halle gibt es einen kleinen Kiosk. Zuerst denke ich, da gibt es Zeitschriften und Schokoriegel und lauwarmen Kakao oder was man halt in so einem Kiosk kauft. Aber als wir die Halle durchqueren, sehe ich Flügel auf einem Ständer hängen. Aus einem anderen Regal ist ein mehrstimmiges Murmeln zu hören, darüber ein Schild „Selbstvorlesende Bücher“. Weitere Auslagen preisen Siebenmeilenstiefel und GutWettermacher an, ein grellrotes Plakat lockt mit „Sternenstaub reduziert, nur heute!“. Felix biegt in den Laden ein. „Warte draußen“ befiehlt er mir, und während er hinein geht, murmel ich leise „bitte“ für ihn. In einer kleinen Pyramide stehen einige Teddybären und schauen mich mit ihren schwarzen Knopfaugen treudoof an. Keiner von ihnen scheint eine normale Teddy-Farbe zu haben. Stattdessen sind sie knallbunt, manche sogar gestreift oder kariert. Einem rosa-karierten stupse ich auf die schwarze Nase, die sich erstaunlich weich anfühlt und gar nicht nach Plastik und sage: „Na? Was bist du denn für ein Süßer?“ Ich will gerade zum Schaufenster hinüber gehen, als ich spüre, wie mich etwas in die Hand zwickt. Ich ziehe sie schnell weg und sehe tatsächlich eine kleine Bissspur auf der Haut.
„Ich geb' dir gleich Süßer“, sagt der rosa-karierte Teddybär und zieht seine buschigen Augenbrauen böse zusammen.
In dem Moment gibt es einen großen Radau auf der anderen Seite der Halle. Ein Mann rennt auf die wartende Bahn zu, während mehrere andere Männer ihm folgen. Kurz bevor er am Gleis ankommt, holen sie ihn ein, werfen ihn zu Boden und schleifen ihn davon. Das ganze passiert in Sekunden und alle tun so, als hätten sie nichts gesehen oder gehört und gehen einfach weiter, genau wie in der Stadt, wenn ein Bettler nach Geld fragt oder Leute von Greenpeace oder den Zeugen Jehovas einem Flugblätter geben wollen.
Felix kommt aus dem Laden und zieht mich in Richtung Ausgang. „Was...“ aber weiter komme ich nicht, sein Blick bringt mich zum Schweigen.
Vor uns liegt eine Stadt wie aus einem Bilderbuch. Jedes Häuschen hat eine andere fröhliche Farbe, alle sind ein bisschen schief und krumm und wirken, als hätten sie sich gerade zum Kaffetrinken gemütlich um den Marktplatz gesetzt. Kinder spielen mit Bällen und Reifen, Erwachsene schlendern Hand in Hand zwischen Blumenbeeten umher, während andere in den Bäumen sitzen und sich unterhalten. Auch hier riecht es nach Eis, aber außerdem nach Waffeln und Schokolade und ein bisschen nach Himbeerbrause.
Ich kriege meinen Mund gar nicht mehr zu vor Staunen. Felix zieht mich in ein kleines Café, dessen Kuchenauslage fast zusammenbricht – so beladen ist sie mit Süßkram.
„Such dir so viel aus, wie du möchtest“, sagt Felix, „Du bist eingeladen.“
Das lasse ich mir nicht zweimal sagen. Ich kann mein Glück kaum fassen, zeige mal auf glitzernde Muffins mal auf haushoch getürmte Sahnetorte. Ich esse, bis mir schlecht wird, und dann noch ein bisschen mehr, während vor dem Fenster ein Pfau auf und ab spaziert und sein Rad schlägt. Felix steht währenddessen an der Theke und unterhält sich mit dem Konditor. Ab und zu schauen beide zu mir rüber und nicken. Als ich gerade in mich hinein horche, ob wohl noch eine winzig kleine Streuselschnecke in meinem Magen Platz fände, nur schon mal so auf Vorrat, sehe ich ein Mädchen mit dunklen Zöpfen vor dem Fenster vorbei flitzen. Natürlich habe ich sie gleich erkannt, aber ich verstehe es nicht ganz. Emma hätte ich hier am allerwenigsten erwartet. Ich springe auf und renne aus dem Laden, während ich immer wieder ihren Namen rufe, aber sie dreht sich nicht um.
Eine düstere Gestalt, die neben dem Eingang gekauert hat, springt auf, krächzt etwas wie „Ich habe ihn“ und schwingt in einer einzigen Bewegung ihren schwarzen Umhang um mich. Bevor es ganz dunkel wird, sehe ich noch, wie Felix entsetzt auf uns zu gelaufen kommt.
Ich wünschte, ich hätte etwas weniger gegessen, denn es fühlt sich an, als ob ich im freien Fall durch den Raum trudele, und mein Magen findet das gar nicht witzig.
Plötzlich spüre ich einen Schlag, der mir fast die gesamte Luft aus den Lungen presst. Als ich endlich wieder klar denken kann, öffne ich langsam meine Augen.
Ich liege auf der Wiese vor meinem Haus, die Straßenlaternen springen gerade mit einem Flackern an. Ich richte mich auf und reibe mir über die Stirn. „Ich muss eingeschlafen sein“, murmle ich und versuche mich aufzurappeln.
„Ja, ne, is klar“, sagt eine grimmige Stimme neben mir. Der rosa-karierte Teddy sitzt da in einem Kreis von Gänseblümchen und streckt mir die Zunge raus.