Diemal geht alles ganz schnell. Kein langes U-Bahnfahren, keine bunten Bahnhöfe, nur das dunkle „Swusch“, und Kladderadatsch sind wir da. Es riecht auch gar nicht nach Eiscreme, was ich schade finde, aber dafür nach frisch geschnittenem Heu und warmen Tieren.
Ich sitze zwischen Büscheln von hohem Gras und an meinem rechten Bein kribbelt es, weil gerade eine Kolonie Ameisen im Gleichschritt über mein nacktes Knie marschiert. Eigentlich sollte es nicht nackt sein. Eigentlich sollte da mein Superman-Schlafanzug sein und nicht diese kurze kratzige Wollhose.
Als ich aufspringe, um die Krabbeltierchen abzuschütteln, versuche ich kurz im Kopf zu überschlagen, wie tief sie im Verhältnis zu ihrer Körpergröße fallen.
Sehr tief.
Am Boden laufen sie kurz wirr durcheinander, sortieren sich neu und rennen wie von einem Magneten angezogen in einer Reihe weiter.
„Bist du jetzt zufrieden?“ grummelt Eduard neben mir. Er hat schon wieder die Arme verschränkt und schmollt. „Ja,“ sage ich und gleich darauf „Nein! Ich muss Emma finden. Weißt du, wo sie ist?“
„Sehe ich aus wie die Touristen-Information?“
Ich gebe auf.
„Da bist du!“ ruft eine Jungenstimme. Er ist ein paar Jahre älter als ich und kommt auf mich zu, mit einem Gesicht, bei dem ich mir nicht so sicher bin, ob ich lieber weglaufen sollte. Er sieht eigentlich nett aus, aber jetzt zieht er die Augenbrauen zusammen und seine Stirn runzelt sich, in etwa der gleichen Art, wie wenn Frank böse Briefe aufmacht. Ich stecke mir Eduard schnell unter das grobe Hemd.
„Wir haben dich überall gesucht, es ist längst Essenszeit“ Ich drehe mich vorsichtshalber um, ob hinter mir noch ein anderes Kind steht, dass er meinen könnte, aber jetzt packt er mich am Arm und zieht mich hinter sich her.
„Ich glaube du verwechselst...“„Friedchen, wir haben jetzt wirklich keine Zeit für deine Spiele. Das Essen wird kalt und Vater ist müde, wenn wir nicht sofort kommen, setzt‘s was.“
Das tut mir ja wirklich leid und einen Moment fühle ich mich auch tatsächlich schuldig, aber dann fällt mir wieder ein, dass ich ja gar nichts gemacht habe. Trotzdem laufe ich vorsichtshalber mit ihm mit.
Er hat meinen Arm losgelassen und schaut mich beim Gehen von der Seite an. Seine Augenbrauen sind wieder da, wo sie hin gehören, und jetzt lächelt er sogar. Er wuschelt mir mit einer Hand durch die Haare. „Na, wo waren wir denn heute, du Träumer?“
Ich habe das Gefühl, eine ehrliche Antwort könnte er gerade nicht verkraften und zucke lieber mit den Schultern.
Ich meine zwischen den Gebüschen einen dunklen Umhang verschwinden zu sehen, aber vielleicht war es auch nur ein Tier.
Jetzt sehe ich das Haus, auf das wir zulaufen. Es ist ein sehr kleines Haus mitten in einer sehr großen Wiese. Das Dach ist mit Stroh gedeckt und geht fast bis zum Boden. In den winzigen Fenstern flackern fröhliche Lichter. Neben der Eingangstür steht eine Holzbank und überall ranken rote Blumen an den Wänden hoch. Aus dem Schornstein steigt Rauch. Wenn noch niemand dieses Haus für ein Bilderbuch gemalt hat, sollte es dringend einmal jemand tun.
Als wir die Tür öffnen, schlägt uns warme Luft entgegen, die wahnsinnig gut nach warmem Essen riecht. In der großen Küche sieht es aus wie in dem Museum, in dem wir mit unserer Klasse mal waren um zu lernen, wie die Menschen früher gelebt haben. Es gibt einen dieser riesigen schwarzen Öfen, davor eine Frau in einem langen geblümten Kleid mit einer weißen Schürze um. Ihre Haare sind braun und wild gelockt. Durch den Dampf und ihre Bewegungen stehen sie in alle Richtungen ab und kleben ihr feucht auf den Wangen. Einen ganz kleinen Moment denke ich, dass sie wirklich meine Mutter sein könnte, aber als sie sich umdreht, passt ihr Gesicht so gar nicht zu den wenigen Bildern, die ich von ihr kenne. Sie schaut mich vorwurfsvoll, aber auch ein bisschen erleichtert an und breitet ihre Arme aus. Ich denke gar nicht darüber nach, schmiege mich an sie und umarme sie. Für einen Moment fühlt sich alles ganz richtig an. Viel richtiger als jemals, vielleicht.
Sie küsst mich auf den Scheitel und schiebt mich wieder ein kleines Stück von sich weg.
„Wo warst du denn nur, Friedrich?“
Ich schaue zu Boden und weiß nicht, was ich sagen soll. Ich möchte auf keinen Fall, dass sie auf mich böse ist.
„Er hat dem Seidel-Bauern bei den Schafen geholfen und die Zeit vergessen“, springt der große Junge für mich ein und zwinkert mir schnell zu, so dass nur ich es sehe.
Sie streichelt mir über die Wange.
„Das ist nett von dir, dass du dem alten Seidel ein wenig zur Hand gehst. Aber nächstes Mal achte bitte darauf, dass du pünktlich zu Hause bist. Gut, dass der Johann dich gefunden hat. Du weißt doch, dass der Papa es gar nicht leiden kann, wenn er auf sein Abendessen warten muss.“ Sie wendet sich wieder ihren Töpfen zu, während Johann mich zu einem Stuhl an den gedeckten Tisch schiebt. Ich zähle insgesamt acht Teller.
„Friedrich ist da!“ ruft Johann die Treppe hinauf und sofort ist das Getrappel mehrerer Füße zu hören. Drei Jungen und ein Mädchen kommen die Treppe hinunter gerannt. Einer zieht mich an den Haaren. „Wegen dir mussten wir alle warten.“
Das kleine Mädchen kommt langsam hinterher. Sie ist vielleicht zwei oder drei Jahre jünger als ich, stellt sich neben meinen Stuhl auf Zehenspitzen und nähert sich mit ihrem Mund meinem Gesicht. Für einen Augenblick denke ich, sie will mich küssen und das überfordert mich gerade wirklich. Aber dann flüstert sie mir etwas feucht ins Ohr: „Hast du den Elfen auch mein Geschenk gebracht?“ Ihre großen Augen schauen so hoffnungsvoll zu mir hoch, dass ich nicke.
Die Mutter stellt die dampfenden Schüsseln auf den Tisch. Mit einer Kopfbewegung scheucht sie die Kleine auf ihren Platz. „Genug jetzt Laura. Wir möchten essen.“
Unter ziemlichem Radau nehmen alle Kinder um den Tisch Platz.
Wieder sind Schritte auf der Treppe zu hören, aber diesmal sind es nicht die von Kindern, sondern mindestens die von einem Baum-Riesen, so schwer sind sie.
Als der Vater die Küche betritt, sind sofort alle ganz ruhig. Er geht einmal um den ganzen Tisch herum, bleibt bei jedem Kind kurz stehen, legt ihm eine Hand auf die Schulter und schaut ihm in die Augen. Er sagt nichts, er lächelt nicht mal richtig, aber als die Reihe an mir ist, und ich seine warme Hand auf meiner Schulter spüre, passiert etwas in meinem Bauch, dass nichts mit meinem Hunger zu tun hat. Ein warmer Klumpen sammelt sich dort, der immer wärmer wird und schließlich fast brennend heiß und der etwas mit meinen Augen macht, und ich merke erst ziemlich spät, dass mir eine Träne über die Wange läuft, und dabei weiß ich gar nicht warum. Er nickt mir noch einmal zu, gibt seiner Frau einen Kuss auf die Wange und setzt sich auf den großen Stuhl am Kopfende. Dann guckt er auf den Boden. Ich möchte ihn gerade fragen, ob er etwas verloren hat, ich könnte es für ihn suchen, da sehe ich, dass auch alle anderen die Köpfe senken. Zum Glück fallen mir ihre gefalteten Hände noch rechtzeitig auf, bevor der Vater anfängt das Gebet zu sprechen, und ich beuge mich auch über den Tisch.
Um ehrlich zu sein, hab ich‘s ja nicht so mit Gott. Also prinzipiell finde ich an was glauben ja toll, dann hat man immer was, an das man denken kann, wenn zu viel Leben auf einmal stattfindet und die Angst ganz schwer im Kopf liegt, so dass einem schwummerig wird.
Ich habe sogar mal versucht in die Kirche zu gehen. Ich habe mich da neben eine alte Frau hingekniet, die guckte ganz zufrieden unglücklich und weinte und war ganz gerührt. Mir taten schon nach drei Minuten die Knie weh und kalt war es auch und soviel ich auch gewartet habe, da kam keine Rührung in mich rein. Mitten während der Pfarrer noch redete, bin ich aufgesprungen und ganz schnell nach Hause gelaufen. Da hatte ich dann sofort ein schlechtes Gewissen. Ich setzte mich ganz demütig vor den Eingang, schloss die Augen und wartete, dass etwas passierte. Vielleicht, dass mich ein Kugelblitz traf oder ein Flugzeug auf mein Haus fiel, das machen die ja manchmal. Nach einer halben Stunde hatte ich ordentlich Hunger. Ich hörte erst mal auf mit demütig sein, machte mir einen ganzen Teller voller geschmierter Brote, setzte mich damit wieder raus und wartete, dass Papa nach Hause kam. Als er endlich die Treppen hinauf schnaufte, vergaß ich ganz „Hallowiegehtesdir“ zu sagen und fragte gleich: „Frank, glaubst du eigentlich an Gott?“ Frank schnaufte nochmal extra laut und fragte zurück: „Glaubst du an den Weihnachtsmann??“ Dann ging er an mir vorbei nach drinnen.
Ich verstand gar nichts mehr. Erstens ist die Frage mit dem Weihnachtsmann mindestens genauso schwer wie die mit Gott und zweitens verstehe ich nicht, was die beiden miteinander zu tun haben, außer den gleichen Frisör vielleicht.
Wenn irgendwas verwirrender ist als die Frage nach Gott, dann sind es Erwachsene.
Ich denke immer noch mit vornüber gebeugtem Kopf über Gott und den Weihnachtsmann nach, als ich ein lautes Räuspern höre. Mein Kopf schnellt nach oben und alle starren mich an.
„Guten Appetit?“ probiere ich vorsichtig und es klappt, alle greifen zu den Schüsseln und bedienen sich. Nur der Vater sieht mich immer noch an und schüttelt mit einem leichten Seufzen den Kopf, bevor er sich den dampfenden Kartoffeln zuwendet. Und für einen kleinen Moment sieht er in dem flackernden Licht der Öllampe aus wie Frank.