Der Aufschlag, mit dem ich gerechnet habe, bleibt aus. Alles um mich herum ist still, bis auf
ein leises Rauschen. Ich traue mich nicht meine Augen auf zu machen, so lange ich keinen sehe, sehen sie mich vielleicht auch nicht. Ich bewege vorsichtig meine Finger und fühle raues Holz, auf dem ich liege. Es riecht feucht und ein wenig nach Fisch. Eine Möwe kreischt.
„Moin!“ brummt eine tiefe Stimme neben mir.
Ich schaue direkt in ein großes Büschel weißer Haare. Dazwischen kann ich blitzende blaue Augen ausmachen, die eigentlich ganz freundlich gucken und dann bewegen sich die Haare und ein breiter Mund öffnet sich zu einem Grinsen.
„Na min Jung? Aus welcher Wolke bist du denn gefallen?“ Er hat eine Kapitänsmütze auf.
Eduard krabbelt auf allen Vieren unter meinem Hemd hervor und übergibt sich auf die Holzplanken. „Seekrank!“ röchelt er. Ich habe gar nicht gewusst, dass Teddys kotzen können.
Ich darf Artur zu ihm sagen und Artur macht für mich das beste Labskaus der Welt. Beim Essen erzähle ich ihm alles über Emma, aber das meiste weiß er schon. Auch dass sie auf der Flucht ist. Er sagt, er weiß nicht warum, aber so richtig glaube ich ihm nicht, da ist so eine geheimnisvolle Dunkelheit hinter seinen Augen. Er kramt in einer alten Tabakkiste und reicht mir ein paar zerknitterte Seiten. Sie riechen nach Schiffstabak, Salz und altem Holz. Es macht ein warmes Gefühl in meinem Bauch, wenn ich daran rieche. Ich überfliege sie, sie handeln von ihren Abenteuern mit Artur. Die beiden scheinen großen Spaß auf dem Schiff gehabt zu haben. Irgendwo steht sogar etwas von Abendessen mit Christoph Columbus.
Ich frage ihn, ob er eine Ahnung hat, wo das nächste Tor ist, aber er schüttelt nur traurig den Kopf. Eines Morgens war sie einfach ohne ein Wort verschwunden.
„Sie hat mich an meine Enkelin erinnert“, murmelt er und schaut dabei traurig in die Ferne.
Wir schippern über das große Meer und um uns herum ist nichts zu sehen als schwarzes Wasser und schwarzer Himmel und ganz viele Sterne, viel mehr als ich je an einem Himmel gesehen habe. Es sieht aus, als hätte jemand eine riesige Schüssel über die Erde gestülpt, mit einem Haufen Löcher darin.
Ein komischer Gedanke ist das, dass das Weltall kein Ende haben soll. Alles ist doch irgendwann einmal zu Ende, auch die größte Schüssel. Aber selbst wenn sie es wäre, hätten wir ja gleich das nächste Problem, nämlich was dann hinter der Schüssel ist (auf jeden Fall schon mal eine große Lampe, die das Licht macht, was da durch die Löcher fällt). Unser Lehrer hat uns einmal gefragt: ob Gott einen Stein machen kann, der so schwer ist, dass er ihn selber nicht bewegen kann. Solche Fragen finde ich ziemlich gemein. Sie machen mir einen gewaltigen Knoten ins Hirn und dann fahren meine Gedanken irgendwann vor eine Wand und ich kann überhaupt nicht mehr denken.Frank sagt, so was muss ich gar nicht denken können, dafür haben wir Philosophen, das ist deren Job, sich den ganzen Tag solche Fragen zu stellen. Das muss echt anstrengend sein. Ich habe noch nie so einen getroffen, aber Frank sagt, die gibt es wirklich. Die machen nichts anderes als denken und Wein trinken und heraus kommen teure Bücher, gestresste Studenten und französische Filme, sagt er. Von manchen Dingen hat Frank echt Ahnung.
Artur steht neben mir an der Reling und bläst aus seiner Pfeife Rauchkringel in die riesen Schüssel. Ich stelle mir vor, wie der Rauch jetzt auf der anderen Seite aus den kleinen Löchern wieder herauskommt. Vielleicht sammelt er sich auch und macht die Nebelbänke zwischen den Bäumen im Wald.
Er räuspert sich und rotzt ins Meer.
„Erzählst du mir eine Geschichte?“ Ich finde, es ist gerade genau der richtige Augenblick eine Geschichte zu erzählen, so wie am Lagerfeuer. Nur ohne Lagerfeuer eben.
Für einen Moment glaube ich, Artur hat mich gar nicht gehört. Er starrt nur auf das Wasser und raucht und guckt mich nicht mal an.
Aber plötzlich nuschelt er etwas, mit der Pfeife im Mundwinkel.
„Hä?“
„Das heißt: wie bitte.“ Er nimmt die Pfeife aus dem Mund. „Weil es manchmal eben nicht war sondern noch ist.“
Ich habe keine Ahnung wovon er redet.
„Was bitte?“
Er seufzt, klopft seine Pfeife auf der Reling aus und macht es sich auf einer Tonne bequem.
„Es ist einmal, zwei Geschwister, Zwillinge genauer gesagt, ein Mädchen und ein Junge. Die hatten sich ganz schrecklich lieb. Aber eines Tages kam eine böse Hexe und hat dem Mädchen einen vergifteten Apfel gegeben.“
„Aber das ist doch Schneewittchen!“
„Wer erzählt hier die Geschichte, du oder ich? Also: hat ihr einen vergifteten Apfel gegeben und als sie ihn gegessen hatte, konnte sie sich an nichts mehr erinnern, nicht mal mehr an ihren eigenen Bruder. Die böse Hexe hat sie mitgenommen in ihr Land und hinter einer Dornenhecke versteckt, wo sie viele Jahre lang schläft, so wie alle anderen in dem Land auch...“
„Aber das ist Dornröschen!“
„Willst du vielleicht weiter erzählen, wenn du alles so genau weißt? Also, sie schläft, aber der Bruder, der hat sie nicht vergessen und der zieht durch das ganze Land, um sie zu suchen und dabei gerät er selber in größte Gefahr. Endlich findet er ein Kaninchenloch, dass genau in das Land hinter der Dornenhecke führt und springt hinein.“
Ich hole Luft, um etwas zu sagen, aber Artur wirft mir einen wirklich bösen Blick zu.
„Schon gut“, murmel ich. „...springt hinein und findet tatsächlich seine Schwester. Aber sie hat keine Ahnung mehr, wer er ist und bekommt furchtbare Angst und läuft vor ihm weg.“ Er lässt sich zurücksinken
und steckt sich seine Pfeife wieder an.
„Und dann?“
„Was und dann?“
„Na wie ist es dann ausgegangen?“
„Das weiß ich doch nicht!“
Ich werde langsam echt sauer und stampfe mit dem Fuß auf.
„Aber wenn du nicht weißt, wie es ausgeht, dann ist es doch gar keine richtige Geschichte!“
„Wer sagt denn, dass eine Geschichte immer ein Ende haben muss?“
Ich mache meinen Mund auf und nach einer Weile wieder zu. Darauf fällt mir keine Antwort ein, was noch lange nicht heißt das er recht hat! . Eine Geschichte ohne Ende... das ist ja ...wie ...wie eine Schüssel über der Erde, hinter der es ewig weiter geht.
„Bist du vielleicht ein Philosoph?“ frage ich Artur. Der lacht ein bisschen rau vor sich hin und schüttelt dann mit dem Kopf.
„Ich bin nur ein alter Mann, der davon träumt, einmal ein großer Kapitän zu werden und über die Weltmeere zu schippern.“
„Bist du dafür nicht schon ein bisschen alt? Ich meine nicht fürs Schiff fahren, sondern von etwas zu träumen, was du einmal werden willst? Wenn man so alt ist wie du, IST man dann nicht längst schon?“
Er wuschelt mir durch die Haare und geht mit seinen Augen ganz nah vor meine.
Der Pfeifenrauch kitzelt in meiner Nase.
„Man ist nie zu alt, um von etwas zu träumen. Wäre es nicht schlimm, wenn man einfach nur noch ist?“ Ich merke, wie ich ganz kurz davor bin, wieder einen Knoten in mein Hirn zu bekommen. Ich mach die Augen zu und konzentriere mich ganz doll. Ich bin ja noch ziemlich beschäftigt mit dem Werden, also stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn ich fertig bin mit dem groß werden und dann mit dem reich und berühmt werden und Vater werden stell ich mir auch gleich noch vor, nur so für den Fall, man weiß ja nien. Und dann, als mir nichts mehr einfällt, was ich noch werden kann, hält plötzlich alles in einem Kopf an. Alle Bilder und Gedanken halten an, als ob jemand mich mit dem Kopf in das Gefrierfach mit der Schnellfrostvorrichtung gesteckt hat. Ich glaube, ich verstehe, was Artur meint.
Gerade als ich ihm sagen will, dass ich fast auch ein bisschen ein Philosoph bin, weil ich so viel denken kann, gibt es einen lauten Knall und das Boot schwankt gewaltig. Als ich über die Reling schauen will was da los ist, trifft eine weitere große Welle unser Boot und schleudert mich auf den Boden. Der Himmel sieht komisch aus. Jemand hat ein Tuch über die Schüssel gehängt und kein Stern ist mehr zu sehen. Es ist jetzt noch schwärzer als schwarz und ein Windstoß fegt über das Boot. Jetzt fängt es auch noch an zu gießen. Das Deck kippt unter mir weg und gleich danach in die andere Richtung. Ich rutsche über die feuchten Planken und rase auf den Rand zu, hinter dem nur noch das schäumende Wasser zu sehen ist. Ich versuche mich an irgendetwas fest zu halten, aber Fässer und Säcke rutschen mit mir zusammen. Trotz des Sturmgeheuls das jetzt eingesetzt hat, höre ich das Platschen, als die ersten von ihnen in die aufgepeitschte See fallen. Als meine Füße schon fast den Rand erreicht haben, greift ein Seeungeheuer mit seiner Pranke nach mir und versucht mich ins Wasser zu ziehen. Ich schreie und schlage um mich, aber dann sehe ich, dass das Seeungeheuer Artur ist, der mit einem Arm den Mast umschlungen hält und mit dem anderen mich. Er zieht mich mit einem starken Ruck an seine Brust und ich spüre, wie schnell sein Herz schlägt. Mit seiner freien Hand reicht er mir ein Tau, das mit der anderen Seite an dem Pfahl fest gemacht ist. „Bind es dir um die Taille und dann versuch nach unten in die Kajüte zu kommen, damit du nicht über Bord gespült wirst.“ Er muss mir ins Ohr schreien, damit ich ihn über all dem Getöse überhaupt hören kann. Ich traue mich nicht seinen Arm los zu lassen und merke wie mir eine Träne die Wange hinunter läuft.
„Aber das ist doch dein Traum! Warum träumst du es nicht einfach wieder schön?“
„Ich versuche es, wirklich! Aber manchmal kann man seine Träume eben nicht steuern!“
Er hält mich weiter mit seinem starken Arm fest, während ich mir den Strick um den Bauch schlinge.
„Und was passiert jetzt mit dir?“
„Ich befürchte, ich wache gleich auf. Ich höre schon jemand den Gang herunter kommen, um mich zu wecken. Geh jetzt! Versuch dich an der Reling lang zu hangeln! Beeile dich! Ich höre sie!“
Ich nehme all meinen Mut zusammen, mache einen Satz an die Reling und klammer mich daran fest. Eine Welle zerrt an dem Seil. Plötzlich kommt eine Stimme aus dem Himmel. Es ist eine Frauenstimme und für einen Augenblick denke ich, es ist Gott. Aber dann sagt sie: „Na Herr Meiser? Zeit zum Aufwachen! Schauen sie, ich habe ihnen ihr Frühstück mitgebracht. Gleich kommt Schwester Annegret, um sie zu füttern.“
Artur winkt mir noch einmal zu. Er sieht traurig aus. Und dann ist er plötzlich einfach verschwunden.
In dem Moment legt der Sturm erst richtig los, es regnet jetzt so sehr, dass ich kaum meine Augen offen halten kann. Ein Blitz zerreißt den Himmel und gleich danach kracht ein Donner, der über das Meer rollt und immer neue Echos macht, aber vielleicht sind es auch schon neue Donner.
Ich habe endlich die Tür zur Kajüte erreicht, aber die Klinke klemmt. Während ich an ihr rüttel, höre ich, wie der Mast knarzende Geräusche von sich gibt. Langsam biegt er sich zur Seite und sein Holz splittert wie ein aufgeschlagenes Knie.
Ein großer Splitter löst sich und kommt direkt auf mich zu geflogen. Ich reiße einen Arm vor mein Gesicht. Gerade noch rechtzeitig. Das Holz schrammt hart an meinem Arm vorbei. Erst spüre ich wie etwas warmes an meiner Haut hinunter läuft und dann erst setzt das Brennen ein.In diesem Moment fliegt die Tür endlich mit einem Schlag auf. Ich ziehe mich hinein und muss all meine Kraft aufwenden, um sie hinter mir wieder zu schließen. Plötzlich ist es ganz ruhig um mich, der Lärm dringt nur noch gedämpft zu mir durch. Im Innern der Kajüte ist alles durcheinander. Ich sehe Töpfe und Pfannen, ausgekippte Spaghetti und umgeworfene Möbel, die im Rhythmus des Bootes hin und her rutschen.
„Pie Feiten!“ höre ich unter meinem T-Shirt. Eduard! Den hätte ich in all dem Chaos fast vergessen. Ich hole ihn heraus und muss lachen, weil er klitschnass aussieht wie eine von diesen nackten Katzen.
„Die Seiten“ wiederholt er, dieses Mal deutlich deutlicher. Zum Glück habe ich sie nicht verloren und finde sie in meiner Hosentasche. Sie sind feucht und an einigen Stellen verwischt die Tinte aber alles in allem sehen sie noch ganz in Ordnung aus. Ich hoffe, sie funktionieren noch, und halte sie in alle Richtungen, um ihr Flüstern zu hören. Ich folge ihnen, bis es deutlicher wird. Schließlich stehe ich vor einem der Bullaugen. Davor wabert dunkelgraues Wasser. „Wenn ich das Ding aufmache, ertrinken wir!“
„Nicht wenn es das richtige Tor ist“ .
„Und wenn nicht?“
Eduard zuckt mit seinen Plüschschultern.
„Außerdem wird das Wasser sofort herein drücken, dann können wir nicht hinaus schwimmen.“
„Dann müssen wir eben warten, bis das Schiff sich so weit mit Wasser gefüllt hat, dass wir hinaus schwimmen können.“
„Bist du wahnsinnig?“
In dem Moment geht ein Beben durch das Schiff und mit einem riesen Radau knallt der Mast auf das Deck. Durch einen Spalt in der Wand strömt Wasser herein.
„Ich glaube nicht, dass wir eine andere Wahl haben.“
Ich reiße das Bullauge auf und springe schnell zur Seite. Sofort strömen Wassermassen in den Schiffsrumpf. Schnell ist es so hoch, dass wir schwimmen müssen und mit dem Kopf fast an die Decke stoßen. „Luft anhalten“ kommandiert Eduard. Ich atme einmal tief ein, stoße mich von der Wand ab und tauche durch das Bullauge.