Noch bevor mein Wecker richtig los scheppern kann, drücke ich den Aus-Knopf und springe aus dem Bett. Und das mitten in den Ferien. Während der Schulzeit klingelt er immer so lange, bis er abgelaufen ist oder Frank ziemlich zerknautscht und stinkig ins Zimmer kommt und mir die Bettdecke weg zieht.
Ich mache mich extra leise fertig, um ihn nicht zu wecken, sonst fängt er noch an mir Fragen zu stellen, das will ja keiner.
Beim Hinausgehen fällt mein Schlüsselbund aus der Jackentasche und landet lautstark auf den Fliesen. Geräusche verdoppeln ihre Lautstärke automatisch in einer Wohnung, in der noch jemand schläft, den man nicht wecken will. Für einen Moment halte ich die Luft an und lausche, aber aus Franks Zimmer kommt nur ein konsequentes einzelnes Schnarchen.
Vor dem Haus sehe ich mir die Karte, die mir der Alte gestern da gelassen hat, noch mal genau an und überlege, was so ein Traumausstatter wohl den ganzen Tag macht. Bis zur vereinbarten Zeit ist es noch ganz schön lange hin. Selbst wenn ich mein Fahrrad stehen lasse und rückwärts bis zum Park gehe, komme ich noch zu früh.
Da schau ich lieber bei Mehmet in seinem Obstladen vorbei, um ihm eine große Hilfe zu sein. So nennt er mich immer. Seine große Hilfe. Ich bin ziemlich gut im Apfelpyramiden bauen. Das wichtigste ist, dass die untersten sicher stehen. Das ist aber kein Problem, wenn man den Trick raus hat. Die, die immer wegkugeln wollen, muss man nur einmal kräftig auf den Steinboden hauen, dann sind sie unten ganz flach und Voila! stehen sie bombenfest, dann kann man die anderen ordentlich darauf schichten. Voila ist ein schönes Wort, das habe ich von Mehmet, ist wohl türkisch für „Tadaaa!“ oder so.
Ich baue ein paar Apfelpyramiden und helfe den Leuten, ihre Sachen in Tüten zu packen.
Die Uhr behalte ich genau im Auge. Das Problem ist, dass Uhren, die man beobachtet, aus Trotz immer besonders langsam machen, vielleicht mögen sie es nicht, beobachtet zu werden.
Eine Zeitlang sind keine Kunden da und wir setzen uns auf die Stufen vor dem Laden und essen Wassereis. Obwohl Mehmet schon steinalt ist, mindestens 36, verstehen wir uns echt gut.
Wir haben eine Abmachung. Er fragt mich nichts über Frank oder über die Schule und ich frage nicht, wie es mit seinem Geschäft oder seiner Frau so läuft.
Ich trage noch ein paar alten Leuten die Einkäufe nach Hause, dann freuen sie sich und geben mir Bonbons und Schokolade und wenn ich Glück habe, kneifen sich mich dafür noch nicht mal in die Wange.
Als ich gehe, drückt mir Mehmet noch eine Tüte mit Fladenbrot in die Hand. Für meine große Hilfe, sagt er.
Ich mach mich auf den Weg in den Park, nicht, dass ich nachher noch zu spät komme und früh kommen ist ja auch eher höflich, außer wenn man zum Essen eingeladen ist. Sagt Frank. Das verstehe ich zwar nicht, weil gerade dann ist es doch wichtig, um noch was von den guten Sachen abzubekommen, aber das ist eben so eine Erwachsenen-Logik.
Es ist gar nicht so einfach die richtige Bank wieder zu finden, zumal auch noch jemand da drauf sitzt. Dieser jemand ist ausgerechnet ein Mädchen mit langen dunklen Zöpfen und etwa so alt wie ich. Mädchen bringen mich durcheinander. Sie riechen sonderbar, kichern ständig und wenn sie etwas sagen, meinen sie meistens etwas ganz anderes. Außerdem haben sie diese Art, einen von oben bis unten zu mustern und dabei nur ganz leicht den Mund zu einem halben Grinsen zu verziehen, wodurch ich mich immer automatisch unterlegen fühle.
Ich breite die Brot-Tüte zwischen uns aus, um ein Zeichen zu setzen. Aber jetzt starrt sie so intensiv auf das Brot, dass ich befürchte, es wird gleich in Flammen aufgehen. So kann ich mich nicht darauf konzentrieren, sie zu ignorieren.
„Krieg ich was?“ fragt sie schließlich und hat ihre Hand schon halb in der Tüte. Na, das ist ja mal ein Benehmen. Eigentlich will ich das Brot schon weg ziehen und ihr einen von Franks Vorträgen über Höflichkeit halten, aber dann sehe ich ihre Augen. Das sind wirklich mal hungrige Augen. Groß und braun, mit so einem Wasserrand am unteren Lid, dass man immer Angst hat, gleich laufen sie über. Und wenn irgendwas schlimmer ist, als Mädchen an sich, dann sind das weinende Mädchen. Also reiße ich mit einer großzügigen Geste zwei Stücke von dem Brot ab und reiche ihr eins. Während sie kaut, schaut sie mich direkt an und lächelt breit. Irgendwas Komisches passiert in meinem Magen, aber ich vermute mal, das kommt, weil da noch kein Frühstück drin ist.
Irgendwie ist das Brot heute aber auch nicht richtig lecker. Es ist noch zäher als sonst und schmeckt ein bisschen wie Schuhsohle. Also nicht, dass ich schon öfter Schuhsohlen gegessen habe. In meinem Magen hat sich ein komischer Klumpen gebildet, der sich langsam in Richtung Brust schiebt und jedes Mal ein bisschen wächst, wenn sie zu mir rüber schaut.
Als sie fast mein ganzes Brot aufgegessen hat, streckt sie mir eine krümelige Hand hin. „Emma“ sagt sie und ich sage: „Jack. So wie in ‚Jack und die Bohnenranke‘“. „Und wo ist deine Bohnenranke?“ fragt sie. „Wächst noch“, nuschele ich und schaue zu Boden.
„Dann bist du wohl Jack ohne Bohne“, kichert sie und obwohl das so ein typisch alberner Mädchenwitz ist, muss ich auch ein bisschen lachen.
„Sind deine Eltern auch nicht mit dir verreist?“
Sobald ich es ausspreche, könnte ich mir mit der flachen Hand vor die Stirn hauen. So eine blöde Frage. Sonst säße sie ja nicht hier. Aber sie zuckt nur die Schultern.
„Keine Ahnung, wo meine Eltern sind.“
„WAS?“
„Sie sind verschwunden als ich kleiner war.“
„Oh.“ Das erste Mal merke ich, wie sich Leute fühlen, wenn ich ihnen von meiner Zigaretten holenden Mutter erzähle.
„Und wo wohnst du dann?“
Wieder ein Schulterzucken.
„Ich finde Erwachsene eh ziemlich bescheuert.“
Das beantwortet nicht wirklich meine Frage, aber irgendwie hat sie ja recht.
Ich wüsste ja gerne, wie das so ist, mit dem Erwachsensein. Also es klingt ja alles ganz toll, wenn keiner einem mehr sagt, wann man ins Bett gehen soll oder wie viel Schokolade man nicht essen darf, aber das ist ja nur ein bisschen was vom Erwachsensein. So wie bei einer Pizza die weiche leckere Mitte. Aber was da außen rum ist, der trockene Rand, der das Erwachsensein wirklich zusammenhält, das ist doch was anderes, das ist mir schon klar.
Vor allem frage ich mich, wer einem das beibringt, das Erwachsensein, mein ich. In der Schule gibt es ja leider kein Fach das „Erwachsenwerden“ heißt. Ich dachte immer, man wächst da rein und wird automatisch weise, wenn man älter wird, aber bisher hat das irgendwie noch nicht ansatzweise stattgefunden.
Manchmal wundere ich mich, ob die Erwachsenen es eigentlich selber wissen oder ob die einfach nur so tun, um uns Kindern ein bisschen Angst zu machen oder Respekt heißt das ja, vor dem Alter weil sie so viel wissen und alles können, und eigentlich liegen sie dann doch nachts im Bett und denken genauso über das Erwachsenwerden nach wie ich und fragen sich, wann es endlich passiert. Und dann sind sie plötzlich 180 und sterben, und während sie durch diesen Tunnel mit Licht laufen, den ich mir immer ein bisschen so vorstelle wie die Eisenbahnunterführung bei uns um die Ecke, denken sie, Mist, jetzt weiß ich es immer noch nicht, aber dann ist es zu spät.
Das Wasser des Sees bildet kleine Ringe, als hätte gerade jemand einen Stein hinein geworfen. Ein Hase hoppelt gemütlich darüber.
Ich will Emma fragen, ob sie das auch gesehen hat, aber ihr Platz ist leer. So langsam wird es mir zu bunt mit diesen Leuten, die sich nie vernünftig verabschieden.
„Du bist pünktlich, das ist gut. Ich lege großen Wert auf Pünktlichkeit.“ Die plötzliche Stimme hinter mir ist so laut und so tief, das ich glaube, die Vibration durch die Bank hindurch in meinem ganzen Körper zu spüren. Vor Schreck hätte ich mir fast in die Hose gemacht.
Der alte Mann steht hinter mir, und mir fällt das erste Mal auf, wie riesig er ist. Sein Schatten ist so mächtig, dass die ganze Bank im Dunkeln liegt. „Komm mit“, sagt er nur. Wie, jetzt? „Ich weiß nicht. Mein Vater hat gesagt, ich darf nicht mit Fremden mitgehen.“ „Wir haben uns doch schon gestern hier getroffen, dann bin ich doch kein Fremder mehr.“ Ich frage mich, ob es eine Regel dafür gibt, wie oft man sich gesehen haben muss, bevor man nicht mehr fremd ist.
Er zückt ein Handy. „Dann ruf deinen Vater doch an und sag ihm Bescheid, wenn dir das lieber ist.“
Nee. Das ist auch keine gute Idee, das ist mir klar. Dann würde er es mir bestimmt verbieten. Aber um den Alten zu testen, nehme ich sein Handy trotzdem und tue so, als ob ich anrufe. Wenn er jetzt ein Verbrecher oder Betrüger ist, würde er wahrscheinlich weglaufen. Tut er aber nicht.
Danach geht er einfach los und ich versuche, bei seinen Riesen-Schritten mitzukommen.
„Nenn mich Felix“, sagt er und dann: „Soso. Du möchtest also gerne wissen, wie das so geht mit dem Erwachsenwerden?“ und für einen Moment bereue ich meinen Entschluss. Aber wie Herbstblätter hinter einem LKW, spüre ich einen Sog, der mir keine andere Wahl lässt, als ihm zu folgen.