Es gibt Momente, in denen einfach alles genau richtig ist wie es ist.
Dieser gehört nicht dazu.
Und dabei lief gerade alles noch so gut, für einen kleinen Augenblick war es so warm und gemütlich, dass es mir ganz flauschig ums Herz wurde.
Aber dann hat Laura versucht etwas aus ihrem Schulaufsatz vor zu lesen und hat dabei das Heft so nah vor die Augen gehalten, dass ihre Nase, auf der noch ein bisschen Suppe hing, einen Fleck in ihrem Heft hinterließ.
„Kann es sein, dass du eine Brille brauchst?“ Habe ich sie in einem Ton gefragt, den auch ein gütiger wohlwollender Lehrer benutzt hätte. Ich spürte, wie mich Eduard unter meinem Hemd in den Bauch zwickte und wäre fast kreischend aufgesprungen, beherrschte mich aber im letzten Augenblick und hoffte, dass keiner die Träne in meinem Augenwinkel bemerkte.
Laura sah mich verständnislos an. Zwei der kleineren Jungs knufften sich kichernd in die Seite und alle hörten mit Essen auf, um mich wieder mal anzustarren, wenn ich so weiter machte, würde ich schuld sein, dass eine ganze Familie hungrig ins Bett ging, sooft unterbrachen sie wegen mir das Essen.
„Ja klar“, sagt Laura jetzt, „die lassen wir einfach von unserem persönlichen Schmied machen, der, der auch für unsere Goldbarren zuständig ist.“
Der Vater schaut sie rügend an, die beiden Jungs fallen fast vom Stuhl vor Lachen und ich glaube, dass das ziemlich ironisch war, ganz sicher bin ich mir aber nicht.
„Ich könnte ja mal auf Ebay gucken“, sage ich und noch während die Worte aus meinem Mund kommen, weiß ich, dass sie sich falsch anhören, ich könnte mir in den Hintern beißen, statt dessen beißt mir Eduard in den Bauch, aber das ist nicht nötig, ich hab‘s schon verstanden. Keine Brillen, kein Ebay, ich weiß nicht, in was für einer Welt ich bin, aber definitiv gibt es hier keine Rechner, höchstwahrscheinlich nicht mal Strom.
Irgendwie bin ich mit dem großen Kladderadatsch aus der Zeit gefallen, so viel ist mir jetzt klar.
In Filmen gibt es das auch manchmal, dann faltet sich die Zeit zusammen und man hopst sozusagen von einem Knick zum anderen, das macht schon Sinn. Vielleicht ist Felix so ein Zeit-Falter.
„Früher war alles besser“, sagt Herr Erwin aus der 23 immer und „Alles Quatsch“ sagt Mehmet vom Obstladen. Ich weiß nicht, wem ich glauben soll, ich habe noch nicht genug früher hinter mir um das beurteilen zu können. Vielleicht haben unterschiedliche Menschen auch unterschiedliche Frühers. Das einzige was ich von „früher“ weiß, hab ich aus dem Fernsehen und das, was ich da so gesehen habe, ist nicht wirklich besser. Da fallen ganz viele Bomben vom Himmel und Kinder schreien und alle haben Hunger. Aber am meisten wundert mich, dass hier alles so bunt ist. Ich dachte immer, früher haben die Menschen in schwarz-weiß gelebt.
Aber wenn ich das alles dieser netten Familie hier erkläre, bringen sie mich sofort zu einem Arzt.
Ich lasse meinen Blick aus dem Fenster schweifen, in der Hoffnung, dass sie mich einfach ignorieren, wenn ich so tue, als ob ich gar nicht da bin.
Vor dem Fenster steht Felix. Ich habe keine Ahnung, wie lange er schon zu uns herein starrt, aber er schaut grimmig, und sein Zylinder bebt ein wenig, als wäre er wütend. Er gibt mir ein Zeichen, dass ich zu ihm nach draußen kommen soll, aber ich schüttel nur leicht den Kopf.
Felix‘ Augen sind so intensiv auf mich gerichtet, dass ich Angst habe, sie brennen gleich zwei Löcher in das Fenster. Eduards Plüschpfoten drücken warnend auf die Haut meines Bauches.
Die Mutter kommt zu mir rüber und legt eine kühle Hand auf meine Stirn. „Ich glaube, der Friedrich muss heute früh ins Bett. Das war ein ganz schön anstrengender Tag die ganze Zeit auf dem Feld, was? Und euch anderen kann es auch nicht schaden mal ein bisschen eher in die Koje zu gehen.“
Alle murren ein bisschen, aber sie tut, als ob sie nichts hört, und fängt an die Teller einzuräumen. Das scheint das allgemeine Zeichen zum Aufbruch zu sein.
Ich hätte gerne noch gefragt, ob einer von ihnen Emma kennt, aber ich denke, ich habe ihnen mehr als genug „seltsam“ für einen Tag geboten, das muss ich nicht noch steigern. Es wundert mich sowieso, dass sich noch keiner fragt, wer ich überhaupt bin und was ich hier will. Und ehrlich, wenn sie mich wirklich alle für diesen Friedrich halten, wäre das ein bisschen schwach. Das heißt ja, die würden ihre eigenen Kinder nicht wiedererkennen. Aber vielleicht ist auch die gesamte Familie ein wenig kurzsichtig, so was soll ja in den Genen liegen.
Unter Geschubse und Getrampel bewegt sich die ganz Horde in den Flur, und ich lasse mich mitspülen. Ich habe keine Ahnung, wo ich hin soll.
Als ich durch die Tür trete, steht Felix vor mir und ich bekomme fast einen Herzinfarkt. Die anderen gehen einfach an ihm vorbei, als sähen sie ihn gar nicht. Er nimmt meinen Arm.
„Zeit zu gehen“, raunt er mir zu.
„Ich will aber hier bleiben!“ rufe ich und stampfe mit dem Fuß auf. Johann dreht sich zu mir um.
„Was willst du denn hier unten?“ er streckt mir seine Hand entgegen. „Komm jetzt. Ich lese dir noch eine Geschichte vor, ja?“
Mein Kopf fliegt zwischen Felix und Johann hin und her. Alles in mir drinnen will hinter Johann her laufen, aber ich weiß nicht, was Felix tut, wenn er wütend wird. Das Letzte, was ich möchte, ist einem von dieser netten Familie irgendwelche Probleme zu machen. Aber wenn ich mit dem Alten mitgehe, macht es wieder dieses dunkle Swusch, und ich wache zu Hause in meinem Bett auf, ohne auch nur ein bisschen nach Emma gesucht zu haben.
Eine Pfote tippt mir auf die Brust. Im Ausschnitt meines Hemdes blinzelt Eduard mir zu. Er nickt mit dem Kopf in Richtung Küche. „Die Hintertür. Los. Vertrau mir!“
Tatsächlich ist auf der Rückseite der Küche eine weitere Tür zu sehen, die einen Spaltbreit aufsteht.
Ich lächele noch einmal zu Johann hoch, und eine Faust dreht sich in meinem Magen herum.
Dann renne ich los.
Die Tür führt tatsächlich nach draußen. Hinter mir höre ich Johann rufen und den erschrockenen Aufschrei der Mutter. Der Vater bekommt noch ein „Was um Himmels Willen...?“ heraus, dann bin ich auf einer dunklen Wiese und höre nichts mehr außer den schweren Schritten von Felix, der mir immer noch auf den Fersen ist. Seine lange Jacke macht ein flappendes Geräusch im Wind und sein Atem ist schwer und pfeifend, wie der von Dory, dem dicken Bernhardiner unseres Nachbarn.
Ich sehe kaum meine Hand vor Augen, aber ich habe keine Zeit auf den Boden zu achten. Wenn jetzt ein Graben kommt, bin ich geliefert, aber es kommt keiner. „Links“, flüstert es aus meinem Ausschnitt. Ich schlage Haken wie ein Hase und biege hinter einer kleinen Baumgruppe ab.
An einen großen Stein gelehnt, versuche ich Luft zu bekommen und lausche in die Dunkelheit. Es ist nichts mehr zu hören.
Vor mir ist ein großer Heuschober, und als sich auch nach mehreren Minuten nichts mehr hinter mir regt, schleiche ich vorsichtig hinüber und öffne die knarrende Tür. Von drinnen schlägt mir warmer Geruch nach Tier und Stroh entgegen. Ich schiebe den Riegel von innen vor und lasse mich erleichtert in einen der Ballen sinken.
Eduard krabbelt unter meinem Hemd hervor und reibt mit seinen Pfoten und leicht angewidertem Gesicht über sein Fell.
„Du schwitzt.“
„Entschuldige.“
Dann macht er es sich auf meinem Bein bequem.
„Du willst also nicht wieder zurück?“„Nicht, bevor ich Emma gefunden habe.“
Er nickt langsam und verständnisvoll. Ich nehme ihn mit beiden Händen um die Taille und halte ihn ganz nah vor mein Gesicht.
„Wo. Sind. Wir. Hier?“
Er zappelt kurz mit den Beinen und versucht sich aus meinem Griff zu winden, merkt jedoch schnell, dass er keine Chance hat.
„Felix zieht mir die Pelzohren lang, wenn er herausfindet, dass ich dir was erzähle.“
Ich drücke seinen dicken Plüschbauch ein wenig zusammen und gucke so wie meine Lehrerin, wenn sie genau weiß, dass mein Hund meine Hausaufgaben nicht wirklich gefressen hat, weil wir nämlich gar keinen Hund haben.
„Wer ist Felix?“
Er lässt pfeifend die Luft heraus mit der er sich aufgeplustert hat.
„Das kann ich dir nicht sagen. Aber er ist nicht böse. Wirklich nicht.“
„Ich habe trotzdem Angst vor ihm.“„Das verstehe ich.“
Ich setze ihn wieder vor mich auf den Boden. Er schiebt mit einer Pfote ein wenig Heu hin und her. Schließlich richtet er sich auf.
„Also gut. Du bist in einem Traum. Ok??“
„Was? Nein, es ist gar nichts ok. Was für ein Traum soll das sein? Ich kenne all diese Leute doch gar nicht!“
„Kennst du sonst immer alle Menschen in deinen Träumen?“„Nein.... Aber...aber ich kann schmecken, ich kann fühlen, ich habe etwas gegessen! Und das war keine Einbildung!“
Alles in mir kribbelt und brodelt. Ich gehe auf und ab und versuche meine Gedanken fest zu halten, die auch lieber weg laufen würden.
„Und wann wache ich wieder auf?“
Er sieht mich mit großen Knopfaugen unschuldig an.
„Hat irgendjemand behauptet, dass du schläfst?“