Man nennt mich Jack. Jack wie in „Dschäck“ und nicht wie das Hochlandrind, das wird Yak geschrieben und Jack ausgesprochen, Sprache ist eine komplizierte Angelegenheit.
Eigentlich heiße ich Paul wie in Paulus. Nicht weil meine Eltern besonders christlich sind, sondern weil es gerade schick war, seinen Kindern alte, biblische Namen zu geben, als ich geboren wurde.
Bei meiner Einschulung gab es in meiner Klasse noch Aaron, Jonathan, zwei Lukas, Jona, Noah und Elisa. Unser Unterricht hörte sich an, wie beim Kindergottesdienst: „Noah, du sollst doch nur zwei nehmen!“, „Falsche Richtung Jonah! Komm bitte zurück!“, „Aaron! Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst nicht mit dem Stock spielen!“.
Als dann in der Dritten noch ein zweiter Paul zu uns in die Klasse kam, war es mir zu blöd. Also habe ich mich Jack genannt, weil „Jack und die Bohnenranke“ meine Lieblingsgeschichte ist.
Ich bin aber leider bisher noch auf keiner Bohnenranke bis in die Wolken geklettert. Meine Bohnen werden immer nur hüfthoch und knicken ab, wenn ich versuche auf sie drauf zu klettern, irgendwas mache ich falsch.
Einen richtigen Riesen hab ich auch noch nicht getroffen, außer vielleicht Herrn Erwin aus der 23. Der hat eine Glatze, gelbe schiefe Zähne und müffelt ein bisschen. Aber soo groß ist er eigentlich auch nicht.
Frank fand die Idee mit dem Namenswechsel am Anfang ziemlich blöd, aber er hat dann doch mitgemacht. Ich finde, dass er sich nicht wirklich beschweren darf, immerhin heißt er eigentlich auch Papa und will, dass ich ihn Frank nenne.
Im Moment sind Ferien und ich kann Ferien nicht besonders leiden. Da sind die Tage immer doppelt so lang, passieren tut auch nichts und ich muss morgens ganz lange leise sein, weil Frank noch schläft. Die anderen Kinder sind in Italien oder Dubai oder Mallorca oder einem anderen dieser schickimicki Strände und lassen sich wahrscheinlich mit Trauben füttern und Palmblättern bewedeln.
Ich mach mir erst mal ein Spiegelei. Dann setz ich einen Kaffe auf, manchmal hilft das und Frank wird von dem Geruch aus dem Bett und in die Küche gezogen, wie im Zeichentrick die Mäuse vom Käse.
Heute dauert es eine Weile und er schwebt nicht sanft herein sondert rammelt volle Möhre gegen den Türrahmen.
Mit der einen Hand reibt er sich seine Stirn, mit der anderen winkt er den Teller mit dem Rest vom Ei weg, den ich ihm hin halte und lässt sich langsam auf einen Stuhl sinken. „Kaffe?“ ich stell die dampfende Tasse vor ihn hin. Er nickt nur, wuschelt mir mit einer Hand durch das Haar und trinkt gierig.
„War lang gestern?“
Er nickt. „Von der Gruppe sind drei nicht aufgetaucht. Mussten wir alles alleine reißen und den Mistkerl selber platt machen.“
Mein Vater ist nämlich Polizist, Soldat und Drachenjäger.
Leider nur am Computer.
Ich glaube, Papa muss Drachen jagen, damit er nicht so traurig ist. Eigentlich kann er nämlich irgendwas Tolles mit Programmieren und so, aber seit er keine Arbeit mehr hat, machen ihm auch die Tage nicht mehr so richtig Spaß. Jeden Vormittag schreibt er ganz viele Briefe für Arbeitsstellen und jeden Nachmittag kommen die von letzter Woche schon wieder zurück. Dann ist er enttäuscht und fängt an, Drachen zu jagen oder Polizist zu spielen, kann man ja auch irgendwie verstehen.
Ich steh auf und will meinen Teller abwaschen, aber er rutscht mir aus der Hand und fällt klappernd in die Spüle. Frank stöhnt auf.
„Tust du mir einen Gefallen und gehst heute draußen mit deinen Freunden spielen?“
Ich könnte ihm sagen, dass ich nicht so richtig Freunde habe und selbst die nicht-so-richtigen alle gerade mit Palmwedeln und Weintrauben essen beschäftigt sind, aber dann guckt er immer so traurig und das will ich nicht. Also nick ich nur, schnapp mir mein Fahrrad und mach mich auf den Weg in den Park.
Ich mag den Park. Man kann ganz viele Hunde streicheln und alten Menschen beim Enten füttern helfen. Irgendwas gibt es dort schon zu tun.
Ich rase im höchsten Gang über die kurvigen Sandwege und mache dabei Motoren-Geräusche. Ich schwöre, mit den Geräuschen fährt es sich gleich noch mal doppelt so schnell. Aber dann hält es ziemlich plötzlich an, und ich muss mich anstrengen nicht einfach weiter zu fliegen.
Mein Vorderrad wird von einem Bein in einer schwarzen Hose aufgehalten. Das Bein gehört zu einem Mann, der auf einer Parkbank sitzt und etwas seltsam aussieht. Könnte an seinem Zylinder liegen. Oder daran, dass er sich jetzt mit schmerzverzerrtem Gesicht nach vorne beugt, um an seinem Bein rum zu reiben. Sein langer Bart hängt dabei fast auf dem Boden.
Weil ich nicht weiß, was ich jetzt tun soll, klingel ich vorsichtshalber ein paarmal mit meiner Fahrradklingel.
„Jetzt brauchst du auch nicht mehr zu klingeln“, brummt er, also höre ich wieder auf.
„Entschuldigung“ versuche ich es. Er kneift die Augen zusammen und schaut mich grimmig an. Ich könnte jetzt ganz schnell weiter fahren, aber irgendwie habe ich das Gefühl, das wird noch ganz spannend. Vielleicht kann ich ihm ja beim Entenfüttern helfen. Also stelle ich mein Fahrrad ab und setze mich neben ihn. Er rückt ein Stück von mir weg.
Wir gucken beide geradeaus. Auf den Wiesen spielen ein paar Kinder Ball. Dazwischen liegen faule Erwachsene herum und lesen oder halten ihren Bauch in die Sonne. Eine Frau steht auf, motzt die Kinder an, die ihr gerade einen Ball an den Kopf gewummert haben und jagt sie auf die andere Seite der Wiese.
„Schön hier, was? Da vorne im Teich gibt es Enten!“ versuche ich ihn vorsichtig von seinem Bein abzulenken, das er jetzt langsam vor und zurück bewegt. „Ich kann ganz toll Enten füttern!“
„Hast du keine Eltern, die du nerven kannst?“
„Papa hat Kopfschmerzen und Mama ist weg.“
„Und wann kommt sie wieder?“
Na, da haben wir doch schon ein Gesprächsthema. Also erzähle ich ihm von meiner Mutter.
Die ist nämlich weggelaufen, als ich ganz klein war. Ob vor mir, meinem Vater oder der kaputten Spülmaschine, habe ich noch nicht herausgefunden.
Wenn mein Vater jemand anderem davon erzählt, redet er immer davon, dass sie Zigaretten holen gegangen ist und dann zieht er sich mit dem Zeigefinger das Unterlid seines Auges ein Stück nach unten.
Aber das kann nicht sein, der Tabakladen ist nämlich nur am Ende der Straße, da braucht man keine acht Jahre für, um dahin zu kommen. Da müsste sie den Tabak schon direkt in Südamerika holen. Zu Fuß.
Und was das mit seinem Auge zu tun hat, verstehe ich auch nicht.
Wenn ich von meiner Mama erzähle, neigen sogar wildfremde Menschen dazu mich in den Arm zu nehmen, was ich übrigens nicht besonders leiden kann. Aber der Alte brummt nur und sieht nicht mal zu mir rüber. Also gucken wir wieder ein bisschen. Ich rutsche etwas näher an ihn ran.
Er riecht sauber und etwas nach Moos oder Kräutern. Gar nicht nach altem Mann. Außer seinem Zylinder trägt er noch ein altmodisches langes Jackett und ein seidiges Tuch um den Hals. Jemand, der so elegante Tücher trägt, kann eigentlich nicht schlecht sein.
Er kramt in seiner riesigen Ledertasche, die vor ihm auf dem Boden steht. Dann holt er zwei in Papier gewickelte Päckchen raus. Eines hält er mir hin und nuschelt, immer noch ohne mich anzugucken: „Käsebrot?“
Frau Lore, aus der „Kinder stark machen“-Gruppe hat uns immer gesagt, wir sollen keine Süßigkeiten von Fremden annehmen. Von Käsebrot war nie die Rede. Und um wirklich stark zu werden, muss ich ja was Vernünftiges essen und Käsebrot ist ziemlich vernünftig, wegen dem Calcium und so, dass weiß ich aus der Koch-AG. Ich passe nämlich auf in der Schule. Also nicke ich und greife zu.
„Hast du auch Kinder?“ frag ich ihn mit vollem Mund, weil jemand der Kindern so gesundes Essen anbietet, bestimmt auch Ahnung von Koch-AGs hat, nehme ich an.
„Ich mag keine Kinder.“ sagt er. Auch mit vollem Mund.
„Oh.“ Menschen, die keine Kinder mögen, finde ich etwas schwierig. Ich bin ja nun mal eines und kann daran so schnell nichts ändern.
„Naja“, versuche ich ihn zu beruhigen, „die werden ja auch irgendwann erwachsen.“
„Erwachsene mag ich auch nicht.“
Das macht die Sache allerdings kompliziert. Mir fällt nichts mehr ein, was ich dazu sagen könnte und so sitzen wir nebeneinander und knabbern unsere Käsebrote.
Die Kinder mit dem Fußball haben sich wieder auf die andere Seite vorgebolzt. Einer von ihnen, so ein Cooler, schießt den Ball besonders hart, und ich sehe noch, wie er genau auf ein romantisches Pärchen mit Picknickdecke zufliegt. Die merken das gar nicht vor lauter Geknutsche. Da dreht der Ball kurz vor dem Kopf der Frau in der Luft um, eine richtige 180 Grad Wendung, schwebt in einer Spirale in die Luft und landet dann sanft wie eine Feder wieder vor den Füßen des Jungen, der ihn fassungslos anstarrt.
„Hast du das gesehen?“ sage ich und drehe mich zu dem Mann um. Aber er ist nicht mehr da. Hat nicht Tschüss gesagt und nichts. Ich habe nicht mal gehört, wie er aufgestanden und weggegangen ist. Das finde ich ziemlich unhöflich.
Neben mir auf der Bank liegt nur eine quietscheentengelbe Visitenkarte.
Felix Siebenflug steht da drauf und da drunter: Traumausstatter.
Keine Nummer, keine Adresse, nur noch ein Satz: Rufen sie mich, wenn sie mich brauchen.
Auf der Rückseite der Karte hat jemand etwas mit Kuli geschrieben.
Morgen. Und dann noch: 15 Uhr. Hier.
Vielleicht werden diese Ferien doch nicht so langweilig.